Sonderausstellung 29|09|2023 - 14|04|2024
Die neue Sonderausstellung »Akte Rumpelstilzchen« in der GRIMMWELT geht auf Spurensuche in Märchen und Recht.
Auf den ersten Blick erscheint es ziemlich verrückt, den Reggae-Klassiker »I Shot The Sheriff« von Bob Marley, den amerikanischen Whistleblower Edward Snowden und mittelalterliche Rechtsprechung mit den Brüdern Grimm in Verbindung zu bringen. Aber auch wirklich nur auf den ersten Blick.
Denn die neue Sonderausstellung »Akte Rumpelstilzchen - Eine Spurensuche in Märchen und Recht« in der GRIMMWELT zeigt eindrücklich, wie sich diese scheinbaren Gegensätze wunderbar miteinander in Verbindung bringen lassen.
In den Märchen der Brüder Grimm geht es immer um Gut und Böse, Recht und Unrecht. Die Märchensammlung war sogar ursprünglich auch als Erziehungsbuch gedacht. Vor diesem Hintergrund begibt sich die neue Sonderausstellung auf eine Spurensuche in Märchen und Recht.
Diese Spurensuche ist - wie sollte es anders sein - in drei Kapitel unterteilt.
Im ersten Kapitel werden die Figuren und Handlungen aus drei Grimm´schen Märchen genauer untersucht. Ausgesucht wurden laut Ute Lilly Mohnberg, zuständig für den Ausstellungsbereich in der GRIMMWELT, drei Märchen, in denen die Charaktere besonders ambivalent aufgebaut sind. »Diese drei Märchen sind besonders spannend, weil die Charaktere, die eigentlich böse sind, hier auch gute Dinge tun«, sagt Mohnberg.
Im ersten Raum dreht sich alles um das Märchen »Der Teufel mit den drei goldenen Haaren«. Wer sich nicht mehr so genau an den Inhalt des Märchens erinnern kann, oder es vielleicht noch gar nicht kennt, der kann sich hier entweder die zeitgenössischen Illustrationen der südkoreanischen Künstlerin Yu Kim ansehen, die mit Original-Zitaten aus dem Märchen versehen sind, oder sich an der Hörstation das Märchen auf Deutsch oder Englisch anhören. Dieser Teil der Ausstellung ist sehr interaktiv gestaltet. Immer wieder gibt es Mitmachstationen, die zum Nachdenken anregen sollen. So finden die Besucher*innen hier Steckbriefe der Figuren aus dem Märchen, die dann abgestempelt werden können - mit gut oder böse. »Wir sind sehr gespannt auf die Ergebnisse«, sagt Mohnberg.
Auch im nächsten Raum geht es interaktiv weiter. Hier erwartet die Besucher*innen das Märchen »Das Tapfere Schneiderlein«. Szenografisch ist der Raum wie ein Thronsaal oder eine Wunderkammer aufgebaut. Dort kann man sich einen Silhouettenfilm über das Märchen von Lotte Reiniger aus dem Jahr 1954 anschauen und im Lügenmuseum werden Gegenstände des Schneiderleins aus dem Märchen ausgestellt. »Sogar der Gürtel des Schneiderleins ist zu sehen«, sagt Mohnberg. Wer will, kann auch den Thron besteigen, Selfies machen und sich dabei die HipHop-Version des Märchens der Band Spree Helden anhören. Für jedes Alter ist hier etwas dabei.
Im dritten Raum und mit dem dritten Märchen wird das titelgebende Rumpelstilzchen genauer unter die Lupe genommen. Wer ist hier der Böse und wer der Gute? Das Rumpelstilzchen, das sich an alle geschlossenen Verträge mit der Müllerstochter gehalten hat, oder die Müllerstochter, die aus Verzweiflung um das eigene Kind zur List greift? Die Besucher*innen dürfen an einer Waage abstimmen und ihr Gewicht entweder auf Seiten des Rumpelstilzchens oder der Müllerstochter in die Waagschale legen.
Während der erste Teil der Ausstellung durch seine Betrachtung der Märchen verspielt erscheinen könnte, wird es im zweiten Kapitel historisch. »Daß Recht und Poesie miteinander aus einem Bette aufgestanden waren, hält nicht schwer zu glauben.« So ist es in Jacob Grimms Werk »Von der Poesie im Recht« zu lesen, und so steht es als Übergang zu Kapitel zwei der Sonderausstellung.
Hier wird ein eher unbekanntes Werk Jacob Grimms in das Zentrum der Betrachtung gerückt, die »Deutschen Rechtsalterthümer«, sowie die Einordnung dieser Grundlagensammlung der germanischen Rechtsgeschichte in das Gesamtwerk der Brüder Grimm.
Der in diesem Kapitel dargestellte Teil der Forschung von Jacob Grimm gibt überaus spannende Einblicke in die historische Rechtsprechung und stellt das Denkkonstrukt des Volksgeistes dar, das auch Jacob Grimms wissenschaftliche Arbeit maßgeblich beeinflusste. Viele originale Exponate - unter anderem Leihgaben von Hessen Kassel Heritage - verdeutlichen eindrücklich, wie wichtig Rechts-Symbole im Mittelalter waren und wie sehr wir heute noch von dieser Zeit geprägt sind, zumindest im Sprachgebrauch. »Wir zeigen zum Beispiel einen historischen Stab und das dazugehörige Todesurteil aus dem niedersächsischen Landesmuseum«, sagt der Historiker Johannes Ickler. Noch heute benutzt man die Redewendung »Den Stab über jemanden brechen«, um über eine Person zu urteilen. Doch woher diese Redewendung eigentlich kommt, wissen wohl die wenigsten. Darauf gibt die Sonderausstellung in der GRIMMWELT Antworten. »Es kommt aus einer Zeit, in der Symbole sehr wichtig waren«, erklärt Ickler. Der Stab, der in der »Akte Rumpelstilzchen« zu sehen ist, bedeutete das Todesurteil für denjenigen, über dem er damals gebrochen wurde.
Aber auch die Biografie der Brüder und ihre Verbindung zum
(Verfassungs-)Recht, die sich wie ein roter Faden durch ihr Leben zieht,
werden näher beleuchtet. Hier ist auch eine Leihgabe aus Privatbesitz
ausgestellt, die zuvor noch nie öffentlich zu sehen war. Zudem der
originale Vorschlag für Artikel 1 der Grundrechte des deutschen Volkes,
handschriftlich notiert von Jacob Grimm, eingebracht in der
Paulskirchenversammlung 1848.
Wer Angst hat, dass das alles zu trocken sein könnte für einen Ausstellungsbesuch, der greift am Eingang zu den Tablets, die von der GRIMMWELT zur Verfügung gestellt werden. Mit denen können mit einer für die Ausstellung erstellten App einige der Exponate digital zum Leben erweckt werden. »Man kann ein Exponat abscannen und dann passieren verschiedene Dinge«, erklärt Ute Lilly Mohnberg. Zum Beispiel werden Texte transkribiert, Figuren in Bildern bewegen sich und Schlachtengetümmel ertönt. »So erhält man noch Zusatzmaterial und ein besseres Verständnis der Zeit«, sagt Mohnberg.
Mit diesen eindrücklichen Bildern geht es weiter in den dritten Teil der Ausstellung, wo sich nun der Blick weg von der Geschichte hin zur Gegenwart wendet und zu unserer heutigen Demokratie. In Kapitel drei werden neue Perspektiven auf das heutige Rechtssystem eröffnet und die Frage aufgeworfen, ob Recht immer Gerechtigkeit schafft. Womit wir beim Thema »Whistleblowing« wären und Edward Snowden, der 2016 in Abwesenheit den von Bürgern der Stadt Kassel gestifteten Preis: »Glas der Vernunft« verliehen bekam. Auch die Ellermutter aus dem Grimm’schen Märchen »Der Teufel mit den drei goldenen Haaren« könnte nach heutigen Standards als Whistleblowerin verstanden werden, sagt Ute Lilly Mohnberg.
Auch in diesem Teil dürfen die Besucher*innen wieder viel mitmachen.
Eine Olivetti-Schreibmaschine steht bereit, auf der man kleine
Karteikarten beschriften und die Frage beantworten kann, mit welchem
Gesetz man selbst schon mal mehr zu tun hatte, als einem lieb war. Immer wieder geht es darum, sich selbst zu hinterfragen. Denn, wie Mohnberg es formuliert: »Die Frage der Gerechtigkeit ist keine einfache.«
Wer in Ruhe darüber nachdenken möchte oder auch einfach eine Pause vom vielen Denken benötigt, der kann sich an der Jukebox mit einer eigens für die Ausstellung kuratierten Musikauswahl berieseln lassen und sich dabei entspannen. Alle Lieder, wie sollte es auch anders sein, haben einen Bezug zu Recht und Gerechtigkeit. Zu hören gibt es unter anderem »I Fought the Law« von der britischen Punkrock-Band The Clash, »Das ist alles von der Kunstfreiheit gedeckt«, von Rapper und Liedermacher Danger Dan und auch Kinderlieder wie »Fuchs, du hast die Gans gestohlen«. Es ist also für jeden Geschmack etwas dabei.
Am Ende der Ausstellung darf man sich ein letztes Mal aktiv einbringen und sich auf einer Skala fragen: »Wie oft habe ich heute eigentlich schon gelogen?«. Womöglich öfter, als einem in Wirklichkeit lieb ist.
Autorin: Amira El Ahl