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Heute | 15.00 Uhr

Die GRIMMWELT von A-Z

Sonder­ausstellung

Titelmotiv zur Ausstellung Licht-Bilder

Licht-Bilder

Vom 30. November 2024 bis zum 6. Juli 2025 präsentieren wir in unserer Sonderausstellung das Werk des Berliner Künstlers Alexej Tchernyi.

Dauerausstellung

Mutter und Kind schauen sich Märchenbücher im Bereich VOLKSMÄRCHEN an.

Erlebnisraum GRIMMWELT

Hier kommen die Brüder Grimm in der Jetzt-Zeit an: Künstlerisch, interaktiv und multimedial vermittelt.

  • Märchen
  • Sonderausstellung

»Der Wunsch in den Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm«

Transkript Interview Prof. Dr. Holger Ehrhardt

Interview mit Prof. Dr. Holger Ehrhardt (Germanistik mit dem Lehr- und Forschungsschwerpunkt Werk und Wirken der Brüder Grimm | Universität Kassel) anlässlich der Sonderausstellung »unMÖGLICH? Die Magie der Wünsche«.

Inwiefern lassen sich Märchen als Wunschdichtung bezeichnen?

Mit Blick darauf, dass in den Märchen meist eine Ordnungswelt geschildert wird, die etwas aus den Fugen geraten ist, hat man Märchen einmal als Wunschdichtung oder Wunscherfüllungsdichtung bezeichnet. Allerdings, wenn man sich speziell das Grimm’sche Märchencorpus anschaut, verhält es sich etwas anders. Denn...

...die Grimms haben nicht nur Märchen gesammelt, ihre Sammlung ist eher eine Bestandsaufnahme mitteldeutscher oder westdeutscher mündlicher Überlieferung am Beginn des 19. Jahrhunderts. Die eigentlichen Zaubermärchen, für die zutrifft, dass sie eine Wunschdichtung sind, machen nur einen Teil der Märchen aus – etwa 90 bis 100 Stück, knapp die Hälfte. In diesen Märchen allerdings sind Wunsch und Erfüllung Strukturelemente, die sich ergänzen, genauso wie Verwandlung und Erlösung. Wunsch und Erfüllung würde man in diesen Märchen feststellen. Und das kann auch mit Zauberelementen verbunden sein.

Was zeichnet Wünsche im Märchen besonders aus?

Meistens sind die Wünsche in Märchen darauf gerichtet, dass man irgendwelche materiellen Bedürfnisse befriedigt: Nahrung, Geld oder irgendwelche Zaubergegenstände, die das Leben leichter machen. Oftmals stellen wir auch fest, dass...

...die Wünsche beschränkt sind im Märchen. Es sind meist drei. Die Zahl drei ist mit dem Märchen immer verbunden. Wir können aber auch feststellen, dass es eigenartige Kinderwünsche gibt, bei denen der Wunsch zu dringlich formuliert ist. Wir haben »Hans mein Igel«: Da wird ein Kind geboren, das eine Igelhaut hat. Oder ein Däumling, ein kleinwüchsiges Kind. Wenn der Kinderwunsch zu stark ist, klappt es nicht. Vielleicht ist das ein alter Aberglaube, der einfach zu einem Märchen wurde. Und dann, wenn man noch mal auf die Märchen schaut, die nicht zu den Zaubermärchen gehören, muss man feststellen, dass das mit den Wünschen auch nicht so klappt. Beispielsweise »Hans im Glück«: Hans wünscht sich was und alle seine Wünsche werden ihm erfüllt, aber er wird immer ärmer dabei. Das zeigt nochmal sehr eindrücklich diese Parodie, dass das Wunschmärchen eigentlich vollkommen anders funktioniert.

Warum haben Märchen ein Happy End?

Es ist schwer möglich, dass man Märchen schlecht ausgehen lässt, nachdem all die Aufgaben erfüllt sind. So gesehen ist das Happy End im Zaubermärchen immer – oder meistens – da. Natürlich gibt es Ausnahmen. Es gibt...

...Anti-Märchen, es gibt Parodien auf Märchen, da ist das anders. Aber das klassische Zaubermärchen geht gut aus. Es endet in einer Ehe und dann gehen ja eigentlich die Probleme los. Aber darüber redet das nachher nicht.

Welchen Wirklichkeitsbezug haben Wünsche im Märchen?

Das ist mit Sicherheit nicht die Gegenwart der Grimms, die oftmals herangezogen wird, sondern es ist vielleicht ein diffuses Altertum, ein Mittelalter, ein feudales System. Dennoch gibt es einige Märchen, in denen man sagen kann, dass hier eine fehlende Wirklichkeit ersetzt wird durch eine poetische Realität. Bei Dorothea Viehmann, der...

...bekannten Märchenerzählerin, kann man das relativ gut beobachten, weil man erstens weiß, dass sie sehr arm war. Sie war keine Marktfrau, wie oft gesagt wird, sondern sie war einfach nur arm. Und in einigen ihrer Märchen findet sich ein spezieller Wunsch: nämlich der Geldbeutel, der nie leer wird. Und das scheint mir ein ziemlich deutlicher Hinweis auf ihre sozialen Verhältnisse zu sein. Man darf auch nicht vergessen, dass manche Märchen im Barock eine starke Ausprägung hatten und dass wir da eine höfische Schicht haben. Und so mag das manchmal hineingekommen sein in die Märchen, dass man auf Hofbälle geht. Da mag die französische Tradition auf gewisse Elemente des Märchens durchaus einen Einfluss gehabt haben.

»Wo das Wünschen noch geholfen hat« – woher kommt diese Formulierung?

Sie stammt auch wieder von Dorothea Viehmann und man weiß sogar ziemlich genau, wann diese Formulierung gefallen ist: am 7. Juli 1813. Wilhelm Grimm hat nämlich die Erzähldaten in sein Handexemplar eingetragen und das ist 500 Meter in südlicher Richtung von hier geschehen. Dort war der Ort, wo...

...Dorothea Viehmann diesen Satz erzählt hat. Und zwar hat sie in dem Märchen »Der Eisenofen« gesagt: »Zur Zeit, wo das Wünschen noch geholfen hat, ward ein Königssohn von einer alten Hexe verwünscht, dass er im Wald in einem großen Eisenofen sitzen sollte.« Und aus diesem Märchen heraus hat Wilhelm Grimm die Formulierung für das erste Märchen der Kleinen Ausgabe, den »Froschkönig«, genommen.

»Wo das Wünschen noch geholfen hat« – was möchte Wilhelm Grimm mit dieser Formulierung bewirken?

Zum einen reagiert er damit auf das Vorwort. Dort steht: Wir haben einen Reichtum alter deutscher Dichtung, der leider verloren gegangen ist, nur noch in den Märchen ist ein bisschen übriggeblieben. Das ist quasi die Antwort darauf. Oder das Märchen wird gleich als solches präsentiert, als ein Relikt dieses übrig gebliebenen poetischen Altertums. Und deswegen, glaube ich, hat diese Formulierung sehr gut hineingepasst.

Wilhelm Grimm hat gelegentlich viehmannsche Formulierungen auch in andere Märchen eingebaut. Es hat aber auch noch einen anderen Grund. Man kann, wenn man die literarische Entwicklung der Gattung Märchen im ausgehenden 18. Jahrhundert beobachtet, feststellen, dass gelegentlich solche Leseransprachen geschehen, in denen man das Übernatürliche, das Unglaubliche des Märchens plausibel machen will. Und vielleicht ist das noch ein Relikt auch aus dieser Zeit, dass man zu erklären glaubt, dem Leser das Unglaubliche poetisch einzuhegen und glaubhafter zu machen. Es gibt auch noch andere Erklärungsversuche, warum man das gemacht hat. Axel Winzer beispielsweise, der die Textveränderungen in seiner Dissertation sehr präzise untersucht hat, sagt, mit dieser Formulierung gelingt ein Zeitsprung in diese unbestimmte Zeit.

Welche Aussagekraft haben Märchen als Wunschdichtung für unsere Gesellschaft?

Im Übrigen würde ich generell davor zurückschrecken, die in den Märchen geschilderte gesellschaftliche Gegenwart zu sehr in den Vordergrund zu heben. Das ist eine poetische Welt. Es ist überdies noch eine Volksüberlieferung, bei...

...der man sehr viele Besonderheiten beachten muss. Insofern muss man da vorsichtig sein, wenn man das auf die Jetztzeit übertragen möchte. Man kann da natürlich alles hineinlesen, aber dann ist es wieder eine gewisse Beliebigkeit, vor der ich als Wissenschaftler natürlich etwas zurückschrecke.

Wenn Sie einen Wunsch frei hätten…

Dass man vielleicht die Missverständnisse und Fehlwahrnehmungen bei den Brüdern Grimm etwas zurückfährt, beispielsweise die ständigen Versuche, das zu skandalisieren, dass man die Märchen zu grausam findet oder dass man meint, die Märchen haben die Grimms alle aus dem Französischen abgeschrieben. Und ich würde mir wünschen, dass insbesondere Journalisten da etwas sensibler würden und nicht versuchten, Skandale zu produzieren.