Eine biographische Reise.
Kassel als Zentrum und Lebensmittelpunkt von Jacob und Wilhelm Grimm - eine biographische Reise.
Wer heute vor der Torwache steht, schaut auf eine der Hauptverkehrsachsen der Stadt Kassel. Im Verkehrslärm der Wilhelmshöher Allee braucht es ein bisschen Fantasie, um sich vorzustellen, wie es war, als Jacob und Wilhelm Grimm hier 1814 einzogen. Es war still und ländlich und sie hatten vermutlich einen der schönsten Ausblicke der ganzen Stadt. Wilhelm Grimm beschreibt es in einem Brief an seinen älteren Bruder Jacob, der zu dieser Zeit für den Kurfürsten als Kriegskommissar in Paris weilt, so: »Das Haus ist das letzte in der Stadt nach der Wilhelmshöher Allee, wo die Kurfürstin erst wohnt darüber, es stehen Säulen davor und ist der Wache gerad gegenüber; es ist still und ländlich mit einer freien in der Abendsonne prächtigen Aussicht.« Über Felder und Wiesen bis hinauf zum Schloss Wilhelmshöhe. Ein guter Ort, um eine der berühmtesten Märchensammlungen der Welt zu schaffen.
Kassel sollte prägend für die Brüder Grimm werden, denn hier begann die Karriere der Sprachforscher. Ihre Kasseler Zeit beschrieben die Brüder Grimm als die »arbeitsamste und vielleicht die fruchtbarste Zeit« ihres Lebens. Nicht nur die »Kinder- und Hausmärchen« wurden hier von Jacob und Wilhelm Grimm zusammengetragen, hier begann auch ihre Arbeit an der »Deutschen Grammatik« und dem »Deutschen Wörterbuch«, die zu Meilensteinen der Deutschen Sprachwissenschaft wurden. Und so wie Kassel das Leben der Brüder nachhaltig prägte, so bedeutend ist das Erbe der Sprachforscher bis heute für die Stadt Kassel, in der es eine umfassende Grimm-Sammlung gibt, die in kleinen Teilen in der GRIMMWELT zu sehen ist.
Doch nicht nur die Stadtgeschichte ist mit dem Leben der Grimms eng verwoben. In ihrem Leben spiegelt sich auch die nationale Geschichte Deutschlands, ebenso wie die Gesellschaft des Biedermeiers um 1800.
Zu dem Zeitpunkt, als Wilhelm für die Brüder die Taschen gepackt und sämtliche Bücher von der alten Wohnung in die neue in der Torwache gebracht hat, leben Wilhelm und Jacob Grimm bereits seit 16 Jahren in Kassel. Es waren politisch aufregende und für die Brüder aufwühlende Jahre. 1798 kommen sie nach dem Tod ihres Vaters nach Kassel, weil hier ihre Tante Henriette Zimmer eine Stelle als Dienstmädchen bei der Landgräfin hat und die mittellosen Kinder ihrer Schwester aufnehmen kann. Die Brüder besuchen das Lyceum Fridericianum, das heutige Friedrichsgymnasium und wohnen in einem Zimmer in der Gasse ›Am Sack‹ in der Nähe des Stadtschlosses. Von hier erleben sie historisch turbulente Zeiten. Hessen-Kassel steigt 1803 zum Kurfürstentum auf, woraufhin sich Landgraf Wilhelm IX. zu Kurfürst Wilhelm I. ernennt. Doch nur drei Jahre später wird der Kurfürst samt Hofstaat durch französische Truppen aus dem Stadtschloss vertrieben. Wilhelm Grimm schreibt im Herbst 1806 in einem Brief: »Jener Tag des Zusammenbruchs aller bisherigen Verhältnisse wird mir immer vor Augen stehen: Ich hatte am letzten Oktober abends die französischen Wachfeuer in der Ferne mit einiger Bangigkeit gesehen, aber dass Hessen unter fremde Herrschaft geraten sollte, konnte ich nicht eher glauben, als bis ich am Morgen die französischen Regimenter bei dem alten […] Schloss in vollem militärischen Glanze einziehen sah. Bald änderte sich alles von Grund auf: fremde Menschen, fremde Sitten, auf der Straße unter den Spaziergängern eine fremde, laut geredete Sprache.«
Es sind aufwühlende Zeiten für die Grimms, die hessische Patrioten und verzweifelt über die neue Situation der Fremdherrschaft sind. Viele ihrer Vorfahren standen im hessischen Staatsdienst, ihr Vater war Amtmann und ihre Tante Henriette muss nun gemeinsam mit der Kurfürstin ins Exil gehen.
Nur ein Jahr später haben die Grimms einen neuen Nachbarn im Stadtschloss: Jérôme Bonaparte zieht mit seinem großen Hofstaat ins Landgrafenschloss an die Fulda. Die Residenzstadt Kassel wird zur Hauptstadt des durch Napoleon neu geschaffenen Königreichs Westphalen. Auch wenn Jacob und Wilhelm Grimm dem neuen Herrscher zunächst skeptisch gegenüberstehen, profitieren sie durchaus von der französischen Herrschaft. Jacob bewirbt sich als Hofbibliothekar, arbeitet im jetzt umbenannten Schloss Napoleonshöhe und steigt sogar zum Mitglied des westfälischen Staatsrates auf. Aber der Staatsdienst langweilt Jacob, am liebsten würde er zurück zu seinen Büchern und Studien.
Denn Bücher sind das Leben der Brüder Grimm. Schreiben, Lesen und Sammeln sind seit ihrer Kindheit die großen Leidenschaften der beiden. Sie analysieren die deutsche Grammatik, sammeln Wörter und später Sagen und Märchen und sind auf der Suche nach den Ursprüngen und Entwicklungen des Deutschen. Jacob und Wilhelm sind Sprachforscher, Volkskundler, Mitbegründer der Germanistik und gehören zu den Universalgelehrten ihrer Zeit. Sie schreiben in ihrem Leben über 20.000 Briefe an zirka 1400 Briefpartner in ganz Europa. Bis nach Odessa reicht die Korrespondenz. In der GRIMMWELT können Besucher*innen an der interaktiven Installation SPIN-NET digital erleben, wie sich der rege Briefwechsel wie ein Netzwerk über ganz Europa zieht.
Die Grimms schaffen sich ein Wissenschaftsnetzwerk und halten über ihre Briefe Kontakt mit ihren Verlegern, wichtigen Unterstützern, Literaten der Zeit, Historikern und Politikern. Alles wird von Jacob und Wilhelm Grimm notiert und aufgeschrieben, meist auf kleinen Zetteln. Diese Arbeit wird zu einem ihrer größten Werke führen: dem »Deutschen Wörterbuch«.
Doch bis es soweit ist, erleben Jacob und Wilhelm noch einiges in der Residenzstadt Kassel. Das Stadtschloss wird nach einem rauschenden Fest durch einen verheerenden Brand im November 1811 komplett zerstört. Auch die französische Herrschaft ist nach Napoleons Niederlage in der Völkerschlacht bei Leipzig am Ende. Der Satellitenstaat des französischen Kaiserreichs wird 1813 aufgelöst. Kurfürst Wilhelm I. kehrt aus seinem siebenjährigen Exil zurück nach Kassel. Zuerst schafft er Napoleons ›Code civil‹ und die damit einhergehende liberale Gesetzgebung ab. Fortan wird Kurhessen, wie das Kurfürstentum auch genannt wurde, wieder absolutistisch regiert.
Unter Wilhelm I. bekommen Jacob und Wilhelm eine Anstellung als Bibliothekare im Museum Fridericianum und
haben in ihrer Freizeit genügend Zeit, ihren eigenen Studien
nachzugehen - ab 1814 in ihrer neuen, geräumigen Wohnung in der
Torwache, in der zeitweise sechs Familienmitglieder wohnen, ab 1822 in
einer neuen Wohnung an der Schönen Aussicht.
Bereits 1806 hatten sie begonnen, Märchen und Sagen zu sammeln. In der Torwache kommt sie nun regelmäßig die Erzählerin Dorothea Viehmann besuchen, die aus einer hugenottischen Familie stammt und noch alte Märchen aus ihrer Heimat kennt. Laut Wilhelm Grimm erzählte sie »bedächtig, sicher und ungemein lebendig mit eigenem Wohlgefallen daran, erst ganz frei, dann, wenn man will, noch einmal langsam, so dass man ihr mit einiger Übung nachschreiben kann«. Auch Freunde und Bekannte steuern Erzählungen bei, unter anderem Annette und Jenny von Droste-Hülshoff. An ihrem Schreibtisch in der Wohnung in der Torwache schreiben die Brüder Grimm diese Erzählungen nieder. Zunächst als wissenschaftliche Sammlung angedacht, verändert Wilhelm mit jeder neuen Auflage die Texte ein wenig, fügt Redewendungen ein und sorgt so für den unverwechselbaren Märchenton. Die ersten Exemplare der »Kinder- und Hausmärchen« erscheinen 1812. Zu Lebzeiten der Grimms kommen 17 Auflagen auf den Markt.
Die ersten eigenen Handexemplare der »Kinder- und Hausmärchen« stammen aus den Jahren 1812 und 1815 und sind heute der größte Schatz der GRIMMWELT. Hinter Panzerglas kann man sie dort bewundern und sehen, wie die Brüder Grimm arbeiteten. Die beiden Bände haben extra breite Ränder, damit Jacob und Wilhelm Anmerkungen hineinschreiben konnten, zum Beispiel, welche Änderungen gemacht werden sollten. Seit 2005 gehören diese Ausgaben zum Unesco-Weltdokumentenerbe.
1821 stirbt Kurfürst Wilhelm I. und nach seinem Tod versucht auch sein Sohn Kurfürst Wilhelm II. das erwachende politische Bewusstsein der Menschen zu bekämpfen. Doch der Wandel der Zeit lässt sich nicht mehr zurückdrehen. Auch Jacob und Wilhelm Grimm stehen nun für eine liberalere Politik ein. Mit anderen Intellektuellen, die kritisch gegenüber der kurfürstlichen Herrschaft sind, werden sie Mitglieder des sogenannten Schönfelder Kreises, den Wilhelms erste Ehefrau, Kurfürstin Auguste, im Schlösschen Schönfeld um sich versammelt.
Doch das politische Engagement der Brüder hat Folgen. Eine Beförderung zum Direktor des Fridericianums wird Jacob Grimm vom alten und verbitterten Kurfürsten 1829 verwehrt. So gehen sie einen Schritt, der ihnen »in der Seele weh tut«, wie es der Historiker Johannes Ickler ausdrückt: Sie folgen einem Angebot aus Göttingen, dort Universitätsprofessoren zu werden. Trotz ihrer Heimatverbundenheit sehen sie zu diesem Zeitpunkt keine Perspektive mehr in Kassel für sich. Sie lassen ihre Schwester Lotte Hassenpflug und auch ihren Bruder Ludwig Emil Grimm zurück, die bis zu ihrem Tod in Kassel bleiben, wo sie auf dem Altstädter Friedhof an der Lutherkirche beerdigt wurden.
Bereits 1837 kehrt zuerst Jacob und dann auch Wilhelm zurück nach Kassel. Weil die beiden Brüder mit fünf weiteren Professoren gegen das absolutistische Streben des neuen Königs Ernst August von Hannover aufbegehrt und einen politischen Skandal verursacht haben, werden sie aus Göttingen verbannt. Sie haben zwar ihre Festanstellung verloren, gehören aber zu den prominentesten Germanisten ihrer Zeit. Und die gewonnene Freiheit schafft Platz für Neues: Die Leipziger Verleger Karl Reimer und Salomon Hirzel unterbreiten den Brüdern ein Angebot, das sie nicht ausschlagen können: ein Wörterbuch der Deutschen Sprache zu schaffen.
Wie immer beginnt auch diese Arbeit für die Brüder damit zu sammeln. 1838 beginnen sie mit dem Monumentalwerk, für das sie im Vertrag mit den Verlegern sieben Jahre veranschlagt haben. Am Ende wird es mehrere Generationen und 123 Jahre dauern, bis 1961 mit dem Buchstaben Z das Werk vollendet ist.
Allein für den Begriff ›Zettel‹ gibt es 1119 Zettel, die heute in der GRIMMWELT ausgestellt sind. Für ihre Arbeit nutzen die Brüder eine Technik, die im 18. Jahrhundert im Kommen war: die Exzerpierkunst, das Herausschreiben von Wissen aus Büchern auf Zettel. Heute würden es manche als »Grimm’sches Google« bezeichnen. Auf diesen Zetteln stehen manchmal nur kurze Stichworte, oft aber lange Textpassagen. Denn es wurde geschaut, wie Wörter in der Literatur gebraucht wurden, und jedes Fundstück notiert. Die Wörter und ihre Wortbedeutungen sollten nicht abstrakt erklärt, sondern aus ihrem schriftsprachlichen Gebrauch abgeleitet werden. So nahm die Zettelwirtschaft kein Ende. Riesige Zettelkästen mussten angeschafft werden, um das Wissen zu ordnen und aufzubewahren. Kein Wunder also, wenn Jacob Grimm sich erschlagen fühlt und schreibt, er fühle sich »von der Masse aus allen Ecken und Ritzen auf mich andringender Wörter gleichsam eingeschneit«.
Jacob arbeitet bis zu seinem Tod 1863 die Buchstaben A bis C und E
bis F ab, Wilhelm beschäftigt sich allein mit dem Buchstaben D. Diese
Arbeit vollbringen sie allerdings nicht mehr in Kassel, sondern in Berlin,
wohin sie der neue preußische König Friedrich Wilhelm IV. unmittelbar
nach seiner Amtsübernahme 1840 holt. Eine der produktivsten Zeiten im
Leben der Brüder Grimm endet mit diesem Umzug. Zurück bleibt die Familie
und für Kassel ein historischer Schatz, der heute in der GRIMMWELT
seine Heimat gefunden hat.
Autorin: Amira El Ahl