Die Werke Alexej Tchernyis in der GRIMMWELT
Ein Mann im Kapuzenpulli sitzt über sein Mobiltelefon gebeugt, sein Blick ist gebannt auf das Gerät in seiner Hand gerichtet. Der Raum ist dunkel, einzig das Licht des Handybildschirms beleuchtet das Gesicht des Mannes, macht seine Mimik sichtbar, zeichnet seine Gesichtszüge nach und hebt die feinen Barthaare hervor, die sein Gesicht umrahmen. Der Rest der Szene verschwindet im Dunkeln. Im Halbschatten sind noch der Faltenwurf des Pullis und die Silhouette der Hand zu erahnen, doch die Konturen des Körpers lösen sich auf. Die Setzung des Lichts (die Handybeleuchtung) zieht uns in die dargestellte Szene, lässt uns Vermutungen anstellen, was die Figur wohl zu so später Stunde anschaut – vielleicht „doomscrolled“ er schon die halbe Nacht durch die Schreckensmeldungen internationaler Nachrichtenportale? –, lässt uns sein Gesicht nach Zeichen seines emotionalen Zustands absuchen.
Mit einfachen Mitteln entsteht eine Szene wie ein eingefrorenes Videobild, das doch nur eine Andeutung bleibt – wie ein Augenblick eines Films, den wir im Kopf selbst weiterspinnen müssen. Sowohl in der Umsetzung als auch im Motiv dieses ersten Bildes, dem wir in der Ausstellung begegnen, nimmt Licht eine zentrale Rolle ein. Das Selbstporträt des Künstlers lässt dessen Faszination für Licht und dessen Wirkung erkennen – sei es als Spot oder als sanfter Verlauf. Aber es ist nicht nur ein Bild über Licht – es ist ein Bild aus Licht.
© GRIMMWELT Kassel | Alexej Tchernyi
»Licht-Bilder« heißt Alexej Tchernyis aktuelle Einzelausstellung und Licht spielt in allen drei ausgestellten Werkgruppen eine zentrale Rolle. Denn obwohl Tchernyis Arbeitspraxis um Papier als Medium und Material kreist – Papier in seinen Arbeiten also nicht als bloßer Bildträger fungiert – ist das Licht doch ebenso wesentlicher Bestandteil des Werks, das erst im Zusammenspiel von Licht und Papier seine Wirkung entfaltet.
Die erste Werkgruppe versammelt Reliefbilder, bei denen das Bildmotiv nicht durch Hinzufügen, sondern durch gezieltes Entfernen von Material entsteht. Über die Jahre hat Tchernyi ganz eigene Arbeitsweisen im Umgang mit Papier als Material entwickelt. In diesem Zyklus kommt seine subtrahierende Technik zum Einsatz: mittels eines Skalpells wird das Papier Schicht um Schicht abgetragen – durch Schneiden, Schaben und Kratzen entstehen so unterschiedlich tiefe Einkerbungen. Tchernyis Bilder sind mikrometerfeine Basreliefs, aus flach gearbeiteten Einritzungen und Abtragungen des Papierträgers, die erst vor der weißen Hintergrundbeleuchtung ihre Bildmotive offenbaren, in dem sie das Licht unterschiedlich stark durchscheinen lassen – je nachdem, wie viele Schichten der Künstler an der jeweiligen Stelle entfernt hat. Diese feinsten Abtragungen bestimmen, wie viel Licht später durch das Material dringen kann. Wo das Papier nun dünner ist, scheint es intensiver, heller durch, so dass sich Schattierungen und Kontraste entwickeln. Erst durch Lichteinfall können sie also ihre volle Wirkung entfalten.
© GRIMMWELT Kassel | Foto: Nicolaus Wefers
Man sagt, dass Kirchenfenster für viele Menschen des Mittelalters die erste Erfahrung erzählender Bilder waren – eine Art frühzeitliches Kino aus Licht und Glas in verschiedenen Transparenzstufen, die unterschiedliche Affekte auszulösen vermochten. Wie ein Film, der durch Lichtprojektion zum Leben erweckt wird, erzählten die Kirchenfenster bewegende Geschichten – nicht in bewegten Bildern, aber doch mit einer Dynamik, die durch die wechselnden Lichtverhältnisse im Tagesverlauf entstand. Tchernyis Reliefarbeiten erinnern an dieses erste Kinoerleben: Es sind transluzente Bilder – Transluzenz (von lateinisch trans ‚hindurch‘ und lux ‚Licht‘) ist die partielle Lichtdurchlässigkeit eines Körpers oder Materials – die einen Bildraum entstehen lassen, den die Betrachter*in wie eine Erinnerung oder ein Traumbild betreten kann. Ein Bildraum – entstanden durch die Schattierungen, die das bearbeitete Relief des Papiers bedingt – der eine Tiefe hat, die in Komposition und Lichtgebung zum Teil an historische Gemälde erinnert. Die Naturdarstellungen und Portraits weisen Schattierungen auf, die aus der Nähe betrachtet fast schon abstrakt erscheinen, obwohl es sich um realistische Bilddarstellungen handelt – ergänzt werden sie im Raum durch rein abstrakte Werke. So, wie einst das Glas der Kirchenfenster ein Spiel mit Transparenz, Transluzenz und Opazität erlaubte, so entsteht auch bei Tchernyi eine Erzählung mit und durch die Beleuchtung: Erst das Licht lässt die Schichten als Schattierungen sichtbar werden. Im Gegensatz zur Transparenz, der Durchlässigkeit, lenkt das Licht hier die Aufmerksamkeit auf das, was schon da ist, etwa auf die besondere Materialität des Werkstoffs Papier einerseits, aber auch auf das komplexe, technische Können, das der Technik zu Grunde liegt. Ein Video am Ende dieser Sektion zeigt den Entstehungsprozess eines weiteren Selbstbildnisses und gibt eine Ahnung davon, wie der Künstler die subtrahierende Technik einsetzt.
Foto: Nicolas Wefers
Tchernyi, der an der Babelsberger Hochschule für Film und Fernsehen Animation studierte und zeitweise als Cutter für Dokumentarfilme arbeitete, beschreibt die Zusammenstellung der einzelnen Reliefarbeiten im Raum wie die Inszenierung eines Dokumentarfilms: Als den Versuch, bestehende Arbeiten so im Raum zu einander in Beziehung zu setzen, dass man verschiedene Personen, unter anderem die Partnerin des Künstlers, und deren (Lebens-)Welten erkennen kann.
© GRIMMWELT Kassel | Foto: Nicolaus Wefers
Die zweite Werkgruppe zeigt fünf neue Dioramen, die Tchernyi eigens für die Ausstellung in der Grimmwelt angefertigt hat. Sie greifen Aspekte aus dem Werk, Leben und dem Zeitgeschehen der Brüder Grimm auf, behandeln aber auch die breitere historische und gesellschaftliche Relevanz von Märchen. Die weltbekannten Grimm‘schen »Kinder- und Hausmärchen« wurden bereits in verschiedensten Medien adaptiert – von Disney-Filmen bis hin zu Mangas und Computerspielen. Ihre zeitlose Faszination liegt in der offenen Verortung, dem meist glücklichen Ausgang und den vielfältigen Deutungsmöglichkeiten - ein Aspekt, den Tchernyis Diorama »Weltliteratur und Pop-Kultur« verhandelt. Dieses Diorama sticht in zweifacher Hinsicht aus der Werkgruppe heraus: Während Tchernyi üblicherweise mit weißem Papier arbeitet und statische Inszenierungen baut, zeigt »Weltliteratur und Pop-Kultur« erstmals eine bunte, sich drehende Welt, die von zeitgenössischen Märchenreferenzen bevölkert wird. Rapunzel lässt ihr langes Haar hier an einer Windkraftanlage im Märchenwald herunter, während ein Schneewittchen im Disney-Stil neben Lego-Zwergen kniet. Aber auch diese rotierende Welt ist aus einer Vielzahl von (perspektivisch zum Teil unterschiedlich gestalteten) Schichten und in mehreren hintereinander angeordneten Ebenen aufgebaut. Wie die sogenannten Gassen eines Bühnenbilds, die – versehen mit Durchgängen oder Aussparungen – den Blick auf tiefere Szenen- oder Bildbereiche lenken, entsteht so in den Dioramen eine räumliche Inszenierung und eine Tiefenwirkung, die durch die geschickte Beleuchtung verstärkt wird. Tchernyi zieht den Blick der Betrachter*innen in die Tiefe, fast ins Unendliche.
© GRIMMWELT Kassel | Foto: Nicolas Wefers
Für die Konstruktion der Dioramen hat Tchernyi eine zweite Arbeitstechnik im Umgang mit Papier entwickelt. Es ist eine addierende, eine aufbauende Technik, die durch das Übereinander-Legen, Verdichten und Verdicken von Papier gekennzeichnet ist. Tchernyi fügt einzelne, von Hand geschöpfte Papierstücke Schicht für Schicht zu collagierten Formen zusammen und erzeugt so dreidimensionale Szenen mit plastischer Tiefe. Je dicker er das Papiermaterial dabei schichtet, desto lichtundurchlässiger und dunkler wird diese Stelle im fertigen Bildgefüge. So heben sich etwa die Verästelungen in Dornröschens Märchenwald dunkler ab, als das Blattwerk an den Bäumen. Auch bei den Dioramen spielt Licht eine tragende Rolle: Es illuminiert nicht nur den Bühnenraum – mal als Spot, mal als Verlauf –, sondern es lässt durch das Schattenspiel eine Tiefenwirkung entstehen. Tchernyi nutzt die Wechselwirkung von Licht und Material, um statischen Bildern eine lebendige Dynamik zu verleihen. So entstehen durch die Setzung der Papierebenen und die raffinierte Lichtinszenierung filigrane, plastische Bildwelten, die je nach Blickwinkel und Beleuchtung unterschiedliche Erzählungen, aber auch Emotionen ansprechen und fokussieren. Tchernyi entwickelt die räumliche Inszenierung einer Erzählung, die sich nicht linear entfaltet, oder eine bestimmte Rezeptionsrichtung vorgibt, sondern ermöglicht durch die Überlagerung mehrerer Bildschichten eine Gleichzeitigkeit in der Wahrnehmung. Zugleich zeigen die Dioramen aber auch wieder die Nähe Tchernyis zu dessen filmischer Praxis: Sie bauen jeweils auf komplexen Storyboards auf, ihnen liegen Licht- und Haltungsstudien (zum Teil aus der klassischen Malerei, zum Teil aus inszenierten Fotografien) zu Grunde, sie bestehen, ähnlich wie die Kulissen von Setdesigns, aus vielen verschiedenen Einzelteilen, die versuchen, Illusionen zu erschaffen. Und: Sie entstehen und entwickeln ihre Kraft des Geschichtenerzählens erst durch das Einschalten des Lichts. Beide seiner Ausdrucksformen – Reliefbilder und Dioramen – setzen auf die Magie der Durch- und Rückbeleuchtung, um mit einfachsten Mitteln ganze Welten zu erschaffen.
© GRIMMWELT Kassel | Foto: Nicolaus Wefers
© GRIMMWELT Kassel | Foto: Nicolaus Wefers
© GRIMMWELT Kassel | Foto: Nicolaus Wefers
© GRIMMWELT Kassel | Foto: Nicolaus Wefers
Neben der Nähe zu filmischen Praktiken weisen die Papierdioramen auf Grund ihrer Materialität – Papier und Licht – aber auch Ähnlichkeit zu zwei weiteren Traditionen der Inszenierung auf: der des Schattentheaters und der des Papiertheaters. Das Schattenspiel erzählt seine Geschichten, indem Schatten auf eine beleuchtete Fläche geworfen werden, während Papiertheater – die vor allem während der Biedermeierzeit im frühen 19. Jahrhundert in vielen bürgerlichen Haushalten Europas verbreitet waren – es Familien ermöglichten, berühmte Theaterstücke oder Opern im eigenen Wohnzimmer nachzuspielen: beides, wie schon die Kirchenfenster, Medien, die als Vorläufer des Kinos verstanden werden können.
Drei Videos in diesem Raum geben einen Einblick in sowohl den Prozess des Papierschöpfens (siehe Monitor am Boden), als auch in die additive Technik des Schichtens und Verdichtens der Figuren und Bildelemente (siehe Monitore an der Wand).
Den dritten Einblick in Tchernyis Schaffen gibt der Animationsfilm „Ins Licht“ – wobei Tchernyi selbst hier nicht von einem Film, sondern von einem Bewegtbild sprechen würde. Das Bildmaterial, das dieser Arbeit zugrunde liegt, ist das digitale Cut-Up eines subtrahierten Papierreliefs, das unter Verwendung der Legetricktechnik animiert wurde. Während ein Diorama oder Reliefbild keine lineare Zeit kennt und alles simultan zeigt, entfaltet sich der Film innerhalb eines räumlichen, wie auch eines chronologischen Rahmens als abstrakte Bilderwelt. Tchernyi lässt die Bildelemente immer wieder in neuen, aber auch sich wiederholenden Formen den Bildraum erobern, der sich über zwei Wände der Blackbox erstreckt. So entsteht eine Art abstrakte, immersive Traumwelt, in die die Betrachter*innen unweigerlich eingesogen werden. Unterstützt wird diese traum- und tranceartige Sequenz durch eine Klanglandschaft von Paul Milmeister.
© GRIMMWELT Kassel | Foto: Nicolaus Wefers
Am Ende der Ausstellung betreten wir einen Archivraum, der den aufwendigen Recherche- und Arbeitsprozess hinter Tchernyis Dioramen offenlegt. Denn neben der hier nicht abgebildeten, aber trotzdem intensiven inhaltlichen Einarbeitung in die verschiedenen Thematiken und der inhaltlichen Verdichtung der Geschichten und Ereignisse in einzelne, signifikante Figurengruppen, Szenerien und Bildwelten liegen einem jeden Diorama unzählige zeichnerische Skizzen zugrunde. Diese Studien sind nötig, um die räumliche Inszenierung zu erarbeiten, zum Beispiel hinsichtlich der Sitzhaltung einzelner Figuren, aber auch des Lichteinfalls in die jeweilige räumliche Szenerie. In Form von Storyboards, wie wir sie aus dem Film kennen, baut der Künstler die Erzählung innerhalb des Dioramen-Raums schichtweise in unterschiedlichen, hintereinander installierten Bildebenen auf. Statt einer zeitlich-linearen Bildabfolge entsteht hier eine simultane Erzählstruktur, eine narrative Gleichzeitigkeit, die Betrachter*innen einlädt, die dargestellte Welt zu erkunden – immer und immer wieder neu. Wir wünschen Ihnen viel Spaß dabei.
Autorin: Anja Lückenkemper