Eine neue Veröffentlichung der GRIMMWELT zeigt, warum zeitgenössische Kunst eine zentrale Rolle im Ausstellungskonzept des Hauses spielt.
Es gibt vieles, was die Gäste erwarten, wenn sie in die GRIMMWELT kommen, nur eines eher nicht. »Die Besucher*innen sind sehr heterogen und es gibt mannigfaltige Erwartungshaltungen«, sagt Jan Sauerwald, Geschäftsführer und Programmleiter der GRIMMWELT. Die einen erwarten ein literarisch-biografisches Haus, ein wissenschaftliches Museum, das sich mit dem Leben von Jacob und Wilhelm Grimm beschäftigt. Die anderen vielleicht einen Blick auf die Kinder- und Hausmärchen, die sie aus ihrer Kindheit vom abendlichen Vorlesen oder aus Disney-Filmen kennen.
Zeitgenössische Kunst erwarten aber vermutlich die wenigsten Besucher*innen in dem Haus, das sich ganz dem Lebenswerk der Brüder Grimm widmet. Dass die zeitgenössische Kunst aber eine ganz zentrale Rolle in der Ausstellungspraxis der GRIMMWELT spielt, zeigt nun eine neue Broschüre, die die GRIMMWELT herausgegeben hat. In der Publikation werden sechs zeitgenössische Werke im Haus vorgestellt und erzählt, wie sie den Weg in die GRIMMWELT gefunden haben und warum sie in der Dauerausstellung gezeigt werden.
Großen Einfluss auf die Entscheidung, zeitgenössische Kunst in der GRIMMWELT zu zeigen, hatte die documenta, und zwar ganz entscheidend die documenta 11 im Jahr 2002. Damals avancierte das Werk des Künstlers Ecke Bonk buch der wörter / random reading zu einem Publikumsliebling. Ganz besonders das kunstinteressierte Kasseler Publikum schloss das Werk ins Herz, das in der Rotunde des Fridericianums gezeigt wurde.
Für den documenta-Experten Dirk Schwarze ist kein anderes documenta-Kunstwerk »so überzeugend auf Kassel und seine Geschichte zugeschnitten wie Ecke Bonks Installation zum ›Deutschen Wörterbuch‹«, wie er im September 2002 sieben Tage vor Ende der Ausstellung in der Hessischen/Niedersächsischen Allgemeinen schrieb: »Die Arbeit besticht als Doppelbild und verweist direkt auf die überwältigende Leistung von Jacob und Wilhelm Grimm als Sprachforscher. Müsste dieses Werk nicht dauerhaft für Kassel gesichert werden?« Damals war noch keine Rede von einem neuen Ausstellungshaus, das ganz dem Leben und Wirken der Brüder Grimm gewidmet sein sollte. Aber es war schnell klar, dass Ecke Bonks Werk in Kassel bleiben sollte, und der Künstler selbst stellte schon Ende September 2002 die Idee eines solchen Hauses in den Raum, als er im Gespräch mit dem HNA-Kulturkritiker Schwarze sagte, »am liebsten wäre ihm, in Kassel ergäbe sich die Möglichkeit, eine Erinnerungs- und Arbeitsstätte für das Wörterbuch zu schaffen: Es gebe bisher kein Haus, das dem ›Deutschen Wörterbuch‹ gewidmet sei«.
Die Verhandlungen zwischen der Stadt Kassel und dem Künstler zogen sich über Jahre hin und der Ankauf wurde erst 2007 vollzogen. Als dann 2010 klar war, dass es einen Neubau und eine Neukonzeptionierung des Brüder-Grimm-Museums geben würde, war auch klar, dass Ecke Bonks Werk dorthin gehört. »Durch den Ankauf und durch den Charakter des Werks war klar, dass es in die GRIMMWELT muss«, sagt Jan Sauerwald. »Die zeitgenössische Kunst spielt durch die documenta in der Stadt so eine wichtige Rolle, dass das neue Haus ohne das Kunstwerk von Ecke Bonk nicht denkbar gewesen wäre.«
Das dreiteilige Werk buch der wörter / random reading ist also ein zentraler Kern der Ausstellungskonzeption der neuen Dauerausstellung der GRIMMWELT gewesen, die unter der Kuration von Nicola Lepp und Annemarie Hürlimann entstand und am 4. September 2015 eröffnet wurde. Die drei Teile des Werkes werden an verschiedenen Orten in der Ausstellung der GRIMMWELT gezeigt. Eine Projektion aller Begriffe des Wörterbuchs in alphabetischer Reihenfolge ist eines der ersten Dinge, die man sieht, wenn man das Foyer des Ausstellungshauses betritt. »Es ist ein sehr aufwändig produziertes Kunstwerk, auch wenn es auf den ersten Blick nicht so erscheint«, sagt Jan Sauerwald. Auch hier ergibt sich eine Parallele zum Werk der Brüder Grimm. Für die Erarbeitung des »Deutschen Wörterbuchs« hatten Jacob und Wilhelm Grimm im Vertrag mit ihrem Verleger sieben Jahre veranschlagt. Am Ende schrieben dann über 120 Jahre mehrere Generationen von Mitarbeitenden an dem Monumentalwerk.
»Man könnte den Eindruck haben, dass der Blick eines Konzeptkünstlers wie Ecke Bonk nötig war, um die Arbeit der Grimms am ›Deutschen Wörterbuch‹ für das breite Publikum sichtbar zu machen«, sagt der Geschäftsführer.
Wie gut zeitgenössische Kunst und die Arbeit von Jacob und Wilhelm Grimm zusammenpassen, zeigt sich auch im Untergeschoss, am Eingang zur Dauerausstellung der GRIMMWELT. Dort liegen, scheinbar wahllos, fünf farbige Baumwurzeln des chinesischen Künstlers Ai Weiwei. Auch Ai Weiweis Verbindung zu Kassel begann mit der Weltkunstschau. 2007 waren auf der documenta 12 mehrere Beiträge des Künstlers zu erleben, seine Arbeit Template auf der Karlswiese vor der Orangerie sorgte für Aufsehen, weil sie schon vor der Eröffnung einstürzte und vom Künstler bewusst nicht wieder aufgebaut wurde.
Die Installation Colored Roots fertigte Ai Weiwei für die GRIMMWELT an, nachdem er 2010 mit dem Glas der Vernunft ausgezeichnet wurde und daraufhin beschloss, der Stadt Kassel eine eigens angefertigte Arbeit zu schenken. »Die Schenkung ist mit in die Neukonzeptionierung der GRIMMWELT eingeflossen«, sagt Sauerwald. Die Wurzeln wurden in China in mehreren Stufen bearbeitet, nach Deutschland verfrachtet und hier mit Autolack überzogen. Die Wurzeln scheinen nur auf den ersten Blick wahllos. Denn sie »ergänzen die etymologische ›Wurzelforschung‹ in der Sprachwissenschaft der Brüder Grimm auf kulturell übergreifende Weise«, wie die Kunsthistorikerin Ellen Wagner in der Broschüre Zeitgenössische Kunst in der GRIMMWELT schreibt.
Ai Weiweis Werk Colored Roots blieb aber nicht die einzige Arbeit, die speziell für das Ausstellungshaus entworfen wurde. So schuf der ukrainische Künstler Alexej Tchernyi 14 Bildkästen für die Dauerausstellung - dreidimensionale Papierkunstwerke, die poetisch schön die Geschichte des »Deutschen Wörterbuchs« erzählen. Die Dioramen sind einer der Höhepunkte der Dauerausstellung.
Auch die Märchenbombe von Lutz & Guggisberg wurde eigens für die GRIMMWELT geschaffen, ebenso die Banquet Table Tales von Antoni Miralda. Miraldas Wand-Installation ist in unmittelbarer Nachbarschaft zu den handgeschriebenen Notizen aus den Koch- und Haushaltsbüchern von Wilhelms Ehefrau Dorothea Grimm präsentiert. Die Wand erinnert an eine lange Tafel, auf den Tellern in der Mitte das üppige Festmahl präsentiert, während auf den Tellern der Gäste ausgewählte Rezepte Dorotheas zu lesen sind.
Auch der Kasseler Künstler Albert (Ali) Schindehütte schuf ein Werk für den Neubau, 2012 entstand Diptychon der Märchenbrüder zu Ehren von Jacob und Wilhelm Grimm, das seit der Eröffnung des Hauses im Eingangsbereich zu sehen ist.
»Zeitgenössische Kunst kann vieles sichtbar machen und großartige Brücken bauen«, sagt Jan Sauerwald. Gleichzeitig habe die zeitgenössische Kunst eben auch das Konzept der GRIMMWELT bis heute geprägt und sorge immer wieder für Überraschungseffekte. Denn auch die Sonderausstellungen, wie zum Beispiel »unMÖGLICH. Die Magie der Wünsche« aus 2022 oder frühere Schauen wie zum Beispiel »Im Dickicht der Haare« aus 2015, waren von Positionen zeitgenössischer Kunst geprägt.
Vermutlich auch deshalb wurde das neue Ausstellungshaus nach seiner Eröffnung von der Kritik extrem positiv aufgenommen. So hieß es zum Beispiel im Deutschland Radio Kultur im September 2015: »Die GRIMMWELT Kassel ist Gesamtkunstwerk aus Buchstaben und Wörtern, aus wohl gesetzten Steinen und weiten Blicken, aus moderner Kunst und Reminiszenzen an archaische Mythen. Ein gelungenes Einfallstor in den ›Kosmos Grimm‹ – der ja vor allem aus Büchern besteht.« Die britische Zeitung The Guardian erklärte die GRIMMWELT im Dezember 2015 sogar zu den ›Ten of the best New Museums‹.
»Wir lösen Begeisterungsstürme beim ausstellungsaffinen Publikum aus«, sagt Jan Sauerwald. Aber das Konzept sei eben auch sehr anspruchsvoll und manche Besucher*innen seien irritiert - auch ob der zeitgenössischen Kunst, die vielleicht auf den ersten Blick nicht zum Werk der Brüder Grimm passen will.
Für all die, und für alle, die sich für zeitgenössische Kunst interessieren, ist die neue Broschüre gedacht. Sie soll »einer besseren Vermittlung unseres Ansatzes, zeitgenössische Kunst in den Ausstellungen der GRIMMWELT zu zeigen, dienen, und wo nötig, die Besucher*innen für die zeitgenössische Kunst in der GRIMMWELT begeistern«, erklärt Jan Sauerwald. Und ganz nebenbei erfährt man interessante Hintergründe zu den Werken und Biografien der Künstler. Wer hätte zum Beispiel gewusst, dass der deutsche Konzeptkünstler Ecke Bonk in Kairo geboren wurde?
Autorin: Amira El Ahl